Auf Heller und Pfennig

[tds_warning]Lesart des Teufels:
Wer sich selbst die Grube gräbt
Wozu wir Dunkelheit sagen, das nennt er Licht, sagt es uns aber nicht. Wo wir „kleiner Finger“ sagen, meint er die ganze Hand, klärt uns darüber aber nicht auf. Auch wo wir anscheinend tun, was wir wollen, lässt er uns in dem Glauben. Am Ende wird er mit uns ganz genauso verfahren: nämlich so, wie er es uns auch nicht gesagt hat. [/tds_warning]

Der Diener Igor machte sich schwerwiegende Gedanken darüber, was sein Herr ihm wohl einst hinterlassen würde, während er die Mahagoniholz-Möbel des herrschaftlichen Wohnsitzes mit dem trockenen Staubtuch bearbeitete und mit einem weiteren Tuch polierte. Um den massiven, mit Einlegearbeit versehenen Esstisch standen die dunkelrot samt bezogenen Stühle mit ihren hohen Rückenlehnen, zehn an jeder Tischseite, je einer an den Stirnseiten.

Es war dreißig Jahre her, dass ihm sein Vorgänger gezeigt hatte, wie er diese zweiundzwanzig Stühle täglich vom Tisch wegzurücken und weiter mit seinem Dienst vorzugehen habe. Die Tischplatte bedürfe besonderer Sorgfalt, hatte der alte Diener ihn eingewiesen. „Einige wenige Tropfen genügen. Sieh her!“

Mit einem weichen Tuch wurde die kostbare, vom alten Diener selbst hergestellte, milchige Politur-Flüssigkeit eingerieben, „immer schön mit leichtem Druck in Richtung der Holzmaserung“, hatte er Igor erklärt und ihn ermuntert, es selbst zu versuchen. Und er hatte getan, wie ihm geheißen. Den Kopf darüber gebeugt, hatte er sich besonders an den Stellen zu schaffen gemacht, in denen er sich in der Oberfläche des Tisches nicht spiegeln konnte. Dort, wo sich hässliche Flecken, etwa von verschüttetem Wein befanden, sollte es ihm seither allmorgendlich ein besonderes Anliegen sein, den Rändern der unschönen Flecken mit aller Kraft zu Leibe zu rücken. Dazu trug er etwas mehr der Politur auf und hatte jedes Mal Genugtuung an der Wirkung, die das Tuch in seiner sorgsamen, flinken Hand auf dem gediegenen Holz hinterließ. Hielt er diese Arbeit für getan, hielt er seinen Kopf, über den Tisch gebeugt, ein letztes Mal schief, ließ den Blick den Tisch auf und ab wandern, ob er sich auch ja der Tischoberfläche als der, einem stillen, makellosen, glänzenden See gleichenden, gewiss sein konnte. Danach wurde der Parkettboden gewischt und gewienert, damit auch sein Anblick stets seinem Herrn und dessen Gästen eine ungetrübte Freude sein konnte. Nach getaner Arbeit -, nachdem er auch die Vitrinen mit dem Essgeschirr und den Gläsern auf Hochglanz gebracht, die Anrichte und die Gemälde an den Wänden samt den schweren, goldverzierten Rahmen mit einem Federwedel vom Staub befreit hatte -, trat er ein wenig zurück, sodass es das Licht selbst zu sein schien, das aus den geöffneten Flügeltüren hereinflutend, sein Morgenwerk bestaunte.

„Die hässlichen Spuren vom Vortag null und nichtig zu machen, da heraus Vergnügen zu ziehen“, so hatte der alte Diener gesagt, „macht das Glück unseres Dienerlebens aus!“

Es hätte ein, Zufriedenheit schenkendes, beschauliches Dasein sein können. Sein Herr war streng, aber da er ihm keinen Anlass gab, mit ihm unzufrieden zu sein, erlebte er gute Tage; zwar lobte er ihn niemals, er kam sich jedoch schon belohnt vor, jedes Mal, wenn er seines Herrn zufriedenen Gesichtsausdruck erahnen konnte, während er den Blick durch die wohlbestellten Räume und Gemächer des Hauses schweifen ließ.

Wäre da nicht Iwanowitsch, der andere Diener gewesen. Der ihm das Leben schwer machte. Wie der sich allmorgendlich, sobald sie auch nur einen Spalt breit geöffnet war, durch die Flügeltür von der Terrasse, an Igor vorbei herein zwängte, sich in die Falten des Brokatvorhanges drückte. Von dort aus er argwöhnisch oder auch belustigt, je nachdem, Igors Werk beobachtete.

Ach, hätte der ungebetene Besucher sich wenigstens still verhalten! Aber dem war ganz und gar nicht so. Zwar polterte und lärmte er nicht, aber kommentierte fast jeden Handgriff, den Igor tat mit einem schmeichelnd süffisanten Unterton. Oft waren seine Zwischenrufe lästerlich gegen den Arbeitgeber gerichtet. „Hast du nicht gesehen wie der Alte gestern durch die Ställe marschiert ist?“ Igor, wie er so mit der sorgfältigen Politur der Anrichte beschäftigt war, seufzte merklich auf. Ach, hätte er diesen unleidlichen Störenfried nur ein für allemal loswerden können! Aber zu sagen wagte er nichts. Er fürchtete, seine beißenden Kommentare wären dadurch nur schlimmer geworden. Stattdessen versuchte er, noch mehr in seine Arbeit vertieft zu sein, sie noch besser zu machen, während Iwanowitsch mit schwerem Rücken den Brokatvorhang an die Wand gedrückt hielt. Er, der in den Pferdeställen beschäftigt war, lachte hämisch. „Nichts hat er gemerkt, alles schien ihm wohlgetan zu sein. In Wirklichkeit habe ich beim Striegeln der Pferde die Zeit für ein Schäferstündchen mit Lina herausschinden können!“ Igor tat, als hörte er nicht; was ging ihn Lina an. Obwohl…. Schnell drängte er den Gedanken an die hübsche Dirn weg.

„Und ich habe mir auch mit dem Fegen nicht so viel Mühe gemacht, den Dreck einfach in die Seiten gekehrt. Der Alte ist doch fast blind.“ Iwanowitsch lachte in der Erinnerung daran übermütig auf und legte mit seinen Sticheleien noch zu.

Wieso er diese Sorgfalt an die alte Kommode verwende? Er könne es sich stattdessen hinter der Hecke auf der Kleewiese gemütlich machen. Mit Lina! Die nie einem Kuss abgeneigt sei! Es gäbe auch einen guten Tropfen unten im Weinkeller zu zapfen. „Der alte Herr merkt es nicht! Der ist gar nicht mehr fähig, ein halbvolles Fass von einem vollen zu unterscheiden!“

Und wenn Igor sich an den zweiundzwanzig Sesseln zu schaffen machte, sie vom Tisch abrücken wollte, drang ihm auch schon zeitgleich das bekannte honigsüße Säuseln in sein Ohr. „Die Stühle sind schwer, der Tisch der Mühe nicht wert, lasse sie wo sie sind, zwänge dich einfach dazwischen, wedle ein paarmal mit dem Tuch über die Platte und gut is! Der trottelige Alte merkt es doch nicht!“

Regelmäßig gefiel sich sein ungebetener Besucher darin, ihm auszumalen, was der alte, trottelige Herr ihm denn vermachen würde. „Wenn du denkst, dass er dich einst umso reicher belohnt, je besser du ihm dienst, dann sei eines anderen belehrt! Was dir zugedacht ist, kriegst du sowieso. Was darüber hinaus geht, kannst du doch sofort haben, musst es dir halt selber verschaffen! – Freizeit, Vergnügen, Gold!“ Und er klimperte prahlerisch mit einem prall gefüllten Golddukatensack in Igors Richtung herum. „Ich habe vorgesorgt und tue es noch! Die große Kiste oben im Schlafgemach steht immer offen! Daraus bediene dich doch! Das ist für uns beide genug!“ Und es folgte sein regelmäßiges „der Alte kriegt doch nichts mehr mit!“ Doch wieder und wieder tat Igor die Stimme ab, als hörte er sie nicht.

So vergingen die Jahre.

Eines Morgens nahm ihn wunder, welch unbeschreiblicher Glanz bereits, ehe er Hand angelegt hatte, über dem von ihm zu pflegenden Esszimmer lag. Es war fast zu schön, was er da sah. Doch bedeutete auch dies nicht für ihn, in seiner Pflicht nachzulassen. Kaum, dass er die überirdisch milde Szene, den frischen Duft erfasst hatte, lief er beschwingter denn je auf die Terrassentür zu; und wie er den schweren Brokatvorhang  federleicht befunden und zur Seite geschoben hatte, wurde er dessen gewahr, dass das Licht nicht von draußen kam, sondern…. Es war in ihm selbst! Da ergriff eine große Freude von ihm Besitz, die sich noch um ein Vielfaches steigerte, als die Flügeltür erst ein wenig, dann ganz offen stand: Weit und breit war niemand zu sehen. Zum ersten Mal zwängte sich der Unruhestifter Iwanowitsch nicht zu ihm herein.

Es sollte auch der Tag werden, an dem er sich zum ersten Mal keine Sorgen darüber machte, was sein HERR ihm vererben würde. Er wusste es ja schon, sobald er ihn für seine schlimmen Gedanken, die ihn jahrzehntelang geplagt hatten, um Vergebung gebeten hatte. Es war gestern Abend gewesen. Er hatte niedergekniet und es war ihm so widerfahren: Er hatte Vergebung bekommen; und er hatte sein Erbe – sogleich – antreten dürfen.

Was wohl aus Iwanowitsch geworden war?, – Igor seufzte. Dies war leicht zu erraten. Der saß, sich über Igors eisernen Widerstand das Haar raufend, in dem verwahrlosten Stall zwischen all dem verlotterten Pferdegeschirr, herumliegenden zerschlissenen Sätteln der schwarzen Pferde, deren traurige Augen ihr glanzloses Fell und ihre verfilzten Mähnen beklagten und ließ sich, auf einem Lumpenbett lagernd, von einem grobschlächtigen Schmied seine Hufe feilen. Die Tür der schwarzen Kutsche hing windschief in Angeln, in Fetzen der goldene Vorhang herunter. Ein Rad fehlte ihr gar.

Da sitzt er nun inmitten muffiger Strohballen. Funken fliegen. Der Gestank verbrannter Hornspäne verpestet die Luft. Er hat aufgegeben, resigniert; Er hat verloren, da alles in Aussicht gestellte Gold den Diener Igor nicht von seinem Platz im EWIGEN LEBEN beim HERRN abbringen kann…

Er schäumte vor Wut. „Zum Teufel mit Igor!“

Als ihm klar wurde, dass er da etwas gesagt, das sich ja gerade nicht erfüllt hatte und sich auch nicht erfüllen würde, fuhr er den, unterwürfig an einem seiner Hufe hobelnden Schmied grundlos an. „Autsch! Das tut weh!“

Und ob. Das tat sogar richtig doll weh. Dass ihm trotz aller angewandten Raffinessen doch wieder einmal ein Mensch durch die Lappen gegangen war.


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