Juliana von Norwich (~1343 – 1413) war eine englische Mystikerin der Kirche St. Julian in Norwich, England. Sie hatte als tief religiöses Mädchen drei Gnadengeschenke von Gott erbeten:
(1) eine Vision des Leidens Christi,
(2) eine Krankheit im Alter von 30 Jahren, dem Alter des Kreuzestodes Christi
(3) das seelische Mitleiden Christi.
Am 13. Mai 1373 ereilte Juliana eine derart schwere Erkrankung, dass der Priester ihr die Sterbesakramente erteilte.
Als ihr der Beichtvater zur Tröstung ein Kruzifix vor die schon ausdruckslos gewordenen Augen hielt, erwachte Juliana abrupt aus ihrem Dämmerzustand und fühlte sich völlig gesund (Peter Dinzelbacher, Wörterbuch der Mystik, 285).
Noch am gleichen Tag erlebte Juliana 15 Visionen. Sie sah in einer Bildfolge den Leidensweg Jesu und empfing göttliche Eingebungen. Aufgrund ihres Zweifels über die Realität ihrer mystischen Erfahrungen, kam es zu einem erneuten körperlichen Dämmerzustand, in welchem Juliana vom Teufel, den sie nach ihrem Erwachen als tatsächliches Wesen mit eigenen Augen sah, gepeinigt wurde. Nach der 16. Vision erlebte Juliana sofortige Heilung und widmete von nun an ihr Leben Gott.
Sie ließ sich in eine Zelle neben der St. Julian Kirche einmauern und verfasste unter Anleitung ihres Beichtvaters einen ersten Bericht ihrer Erlebnisse. Das Inklusentum im Abendland, das Einmauern von Nonnen auf Jahre oder sogar für die gesamte Lebenszeit, geht auf das 9. Jahrhundert zurück. Die Inklusin Juliana schrieb die erweiterte Endfassung, Book of Showing, rund 20 Jahre später und ließ ihre tieferen Erkenntnisse, die sie durch Meditationen und Gebet empfangen hatte, einfließen.
Ein zentrales Thema ihrer Theologie ist die Konzeption Gottes als ‚Mutter’“ (ebd., 287). Ferner lehrte sie das kontemplative Gebet, das die Vereinigung der Seele mit Gott anstrebt. „Das Interesse an ihrem Leben und Werk war in keinem Jahrhundert größer als im gegenwärtigen. Dies zeigt z. B. die kürzlich erfolgte Gründung eines Juliana-Ordens in den USA, das weltweite Interesse an Juliana als Exponentin der Frauenmystik … (ebd., 287-288).
Und auch unter Evangelikalen, unter denen die Mystik immer mehr an Einfluss gewinnt, trifft man immer wieder auf Juliana als Vorbild tiefer Spiritualität. Ann Voskamp bspw. nimmt in ihrem Bestseller One Thousand Gifts Bezug auf Juliana von Norwich ebenso wie Kenneth Boa, Autor und Konferenzredner, der glaubt, dass Evangelikale viel von katholischen Mystikern lernen können, sofern sie ihre „Erfahrungen“ durch die reformatorische Theologie „ausbalancieren“.
John Hick kommt allerdings zu dem Schluss:
Insgesamt scheint mir, dass sie, wie viele andere christliche Mystiker, bezogen auf die orthodoxe Lehre ihrer Zeit eine Häretikerin war, ohne es zu wissen oder auch nur wissen zu wollen. In ihrer Ablehnung des Fall-Erlösung-Modells, welches Sünde und Schuld zum zentralen menschlichen Problem und eine transaktionale Busse zur einzige Lösung macht, in ihrer Behauptung des „göttlichen Willens“, der eine Entfremdung durch Schuld nicht zulässt, sondern nur eine geistliche Verwirrung und Blindheit in unserem irdischen Dasein, und in ihrem beginnenden Universalismus bewegte sie sich in Gedankenwelten, die Mystikern aller Traditionen vertraut sind, das dogmatische System der Kirche jedoch überschreiten. Sie erlebte und dachte mutig, doch reflektierte sie ihre Gedanken und Erfahrungen nicht philosophisch und erkannte so nicht deren weitere Auswirkungen.
Bildnachweis:
„The church of SS Andrew and Mary – St Julian of Norwich – geograph.org.uk – 1547398“ by Evelyn Simak – From geograph.org.uk. Licensed under CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_church_of_SS_Andrew_and_Mary_-_St_Julian_of_Norwich_-_geograph.org.uk_-_1547398.jpg#mediaviewer/File:The_church_of_SS_Andrew_and_Mary_-_St_Julian_of_Norwich_-_geograph.org.uk_-_1547398.jpg
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