Franziskus: Ein Papst für alle Christen?

Am 13. März 2013 schrieb Timothy C. Morgan für das neoevangelikale Magazin Christianity Today, das nach eigenen Angaben über 300.000 Leser erreicht, einen Artikel im Vorfeld der Wahl des neuen Papstes. Der Artikel trug den vielsagenden Titel „A Pope for All Christians – Why believers of all stripes should care about the new head of the Catholic Church“ („Ein Papst für alle Christen – Warum Gläubige aller Schattierungen ein Interesse am neuen Haupt der katholischen Kirche haben sollten“). Morgan weist in seinem Artikel darauf hin, dass der zukünftige Papst mit inneren wie äußeren Problemen und Skandalen konfrontiert sein wird, die die “Lebendigkeit des Katholizismus“2 bedrohen. Ferner schreibt Morgan:

Aber die Konsequenzen des Erfolgs oder Misserfolgs werden für die universelle Kirche, die 2.1 Milliarden Christen aller Denominationen umfasst, beachtlich sein. Schon die ersten Aussagen in Morgans Artikel lassen aufhorchen. Ganz selbstverständlich zählt er alle Katholiken zur „universellen Kirche!2

Morgan vertritt die Ansicht, dass die

Mauern, die seit langem Katholiken von Orthodoxen, Protestanten des Mainstreams, Evangelikalen und Pfingstlern scheidet, allmählich Risse bekommen2

und zitiert Brian Stiller, globaler Botschafter der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA), der auf seinem Blog schrieb, dass Katholiken und Evangelikale in den letzten 500 Jahren miteinander „noch nie so eng verbunden“ waren.2

In der Tat entspricht diese Analyse Morgans durchaus den Tatsachen. Evangelikale im deutschsprachigen Raum haben viele lobende Worte für den ehemaligen Papst Benedikt und vor allem für seine Buchtrilogie gefunden. Über den 2. Band der Trilogie urteilt der ehemalige katholische Priester Johannes Ramel allerdings völlig korrekt:

Wenn auch oft recht treffende Aussagen gemacht wurden in diesem Jesus-Buch,  so spiegelt auch dieses Werk den Geist wider, der das Wort Gottes relativiert und Tradition und Autorität der katholischen Kirche über das Wort Gottes stellt.3

Eine gute Buchrezension beschränkt sich nicht nur auf den Inhalt eines Buches, sondern urteilt gleichfalls umfassender, indem sie ein Werk stets in den größeren geistigen Kontext des jeweiligen Autors stellt, so wie Johannes Ramel es tut. Folglich kann selbst ein nur in Teilen verfängliches Buch, das ansonsten viel Gutes enthält, nicht empfohlen werden, da dies einer Empfehlung einer Kirche gleichkommt, die nicht im Einklang mit dem biblischen Geist ist. Oft sind Rezensionen nicht deswegen irreführend, weil sie sagen, was am Inhalt eines Buches gut ist, sondern weil sie es versäumen, jene Dinge zu erwähnen, die mit der Bibel unvereinbar sind oder weil sie nicht auf die geistigen Quellen eines Autors hinweisen.

Johannes Ramel zum Beispiel zeigt in seiner Rezension über das zweite Buch der Trilogie Benedikts auf, dass der Papst

auch die Altlasten katholischer Dogmen (Marienkult, Kirche, Priestertum und Sakramente wie Eucharistie) ganz unmerklich einfließen lässt, um sie scheinbar ‚biblisch‘ zu legitimieren.4

Weiter führt Ramel aus:

Hier wird nun offenbar, dass die Tradition der Kirche die Bibelauslegung bestimmen müsse. Und dies tut der Papst ergiebig in diesem Buch.5

Damit lässt Benedikt den

Boden der Heiligen Schrift hinter sich und folgt den Überlieferungen der Väter.6

Diese ebenso deutlichen wie begründeten Worte hört man von vielen Evangelikalen bedauerlicherweise nicht, und so entsteht schnell der trügerische Eindruck, der Graben zwischen Katholizismus und Protestantismus/Evangelikalismus sei gar nicht so groß, da man ja ständig nur die positiven Seiten des Papstbuches herausstellt.

Immer offenkundiger wird unter Evangelikalen überdies die zunehmende Popularität katholischer Mystiker sowie der damit verbundenen mystischen Praktiken, denen sich immer mehr Evangelikale zuwenden. So bekannte und einflussreiche Schlüsselfiguren wie Rick Warren (Leben mit Vision), Bill Hybels (Willow Creek) und der fast wie ein Idol verehrte Evangelist Billy Graham haben maßgeblich dazu beigetragen, die Gräben zwischen Katholizismus und Protestantismus/Evangelikalismus zuzuschütten.

Wer diese Gräben mit Pickel und Schaufel des Geistes der Wahrheit und als treuer Diener und Bote des Auferstandenen wieder vertieft, wird als liebloser Spalter denunziert. Das jahrzehntelange Credo „Liebe ist wichtiger als Lehre“ hat die Sinne vieler Evangelikaler für die Wahrheiten des Evangeliums vernebelt. Moderne katholische Mystiker wie Henri Nouwen waren unter Protestanten zeitweise sogar populärer als Protestanten oder Evangelikale aus dem eigenen Lager, in den USA sogar populärer – man glaubt es kaum – als Billy Graham, wie eine Umfrage unter 3400 protestantischen Führern im Jahre 1994 in Vancouver ergab, wonach Nouwen Platz 2 vor Billy Graham auf Platz 3 erreichte.7

Morgan verfolgt nicht die Absicht, wie er betont,

auf eine Institution einzudreschen, die durch ihre Skandale bereits am Boden liegt,2

da auch die Protestanten

sehr vertraut sind mit den Versuchungen durch Geld, Sex und Macht.2

Auch Letzteres will Morgan nicht verurteilen, so hat es den Anschein. Niemand soll niemanden mehr kritisieren; alle sollen zu allen lieb sein. Eine solche Haltung ist gleichwohl mit der neutestamentlichen Ethik nicht vereinbar, da die Bibel durchaus Ermahnung, Zurechtweisung und in schwerwiegenden Fällen sogar Gemeindezucht verordnet. Und hat nicht der Apostel Paulus geschrieben, dass die Liebe sich nicht an der Ungerechtigkeit freut, sondern die Liebe freut sich an der Wahrheit (1Kor 13,6). Warum ist es so vielen Evangelikalen gelungen, die Liebe gegen Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit auszuspielen?

Dies kann nicht die Liebe Gottes sein, die die Wahrheit auf dem Altar einer menschengemachten Einheit opfert. Dies kann nicht die Barmherzigkeit Gottes sein, die die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes aus dem Sinn verliert. So wie Gott nicht zerstückelt werden kann, sondern eine ewige Einheit in sich selbst ist, so können Gottes ewige Attribute wie seine Liebe, seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit und seine unendlich vielen anderen Eigenschaften nicht auseinanderdividiert werden, sondern sie können immer nur aufeinander bezogen und als Einheit betrachtet werden.

Morgan geht aber noch einen Schritt weiter und schreibt fast flehentlich:

Wir wollen Christen überall dabei helfen zu verstehen, dass eine gesunde katholische Körperschaft, die das Evangelium verkündet, allen Kirchen und der Sache Christi großen Nutzen bringt.2

Wie gestaltet sich dieser Nutzen? Johannes Paul II. und der zurückgetretene Papst Benedikt haben ihr „Lehramt in „außerordentlicher Weise“2 ausgeübt und sich gegen Abtreibung und Säkularisierung und für die Heiligkeit des Lebens ausgesprochen; beide Päpste haben sich um den Dialog zwischen Christen und Moslems verdient gemacht; und sie haben den theologischen Dialog zwischen Katholiken und Protestanten in Bezug auf Rechtfertigung, Autorität der Kirche und das Verständnis über die Jungfrau Maria vorangebracht, so Morgan.

Dann fährt Morgan fort und lobt die sozialdiakonischen Bemühungen der katholischen Kirche im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und in der Armenhilfe.

Die katholische Kirche ist der größte Vertreter im Gesundheitswesen in der Welt und verwaltet 26 Prozent aller Gesundheitseinrichtungen,2

was einen „neuen Kontext für die Zusammenarbeit zwischen Protestanten und Katholiken in der Mission“ schafft.

Morgan hebt ferner hervor, dass die warmen Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken ihren Ausdruck darin finden, dass konservative Episkopale ihre anglikanische Identität beibehalten können und sich dennoch der katholischen Kirche anschließen können – „ein ähnlicher Plan wird für die Lutheraner in Deutschland“2 entworfen. Obgleich die Zeit der Konkurrenz noch nicht vorbei ist und Spannungen zwischen den Konfessionen in Ländern wie Brasilien weiterhin bestehen, ist der

Zustrom von Millionen von Katholiken in evangelikale und charismatische Gemeinden ein historisches Ereignis, das wenig Anzeichen aufweist, dass dieser Trend rückläufig ist.2

Und so ruft Morgan beide Konfessionen zur gegenseitigen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Autorität der Schrift, des Erlösungswerkes Christi, der Notwendigkeit persönlicher Bekehrung sowie der Evangeliumsverkündigung durch Wort und „soziales Handeln“ auf und schreibt überdies, dass eine Zusammenarbeit aufgrund „der monumentalen spirituellen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“2 wichtiger ist als je zuvor. Morgan scheint weder die weit auseinanderliegenden Positionen zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus in Bezug auf die Heilige Schrift, die Heilslehre, die Sakramentenlehre, das Amtsverständnis usw. zu kennen, noch scheint er sich der Unvereinbarkeit des sozialen Evangeliums mit dem biblischen Evangelium bewusst zu sein. Morgan argumentiert mehr aus dem Blickwinkel der sozialen Nöte als aus der geistlichen Perspektive der Wahrheiten des Evangeliums.

Am Ende seines Artikels kann sich Morgan dann schließlich doch eine Kritik nicht verkneifen. Und natürlich kritisiert er die Protestanten, nicht alle Protestanten, sondern vor allem jene, die „oftmals ihre streitsüchtige Stimme“ erheben.2

Ob Protestanten es jedoch zugeben wollen oder nicht, es gibt eine einzige Person in Rom, die auf Christen aller Schattierungen Einfluss nehmen kann, damit sie für die Sache Christi mit größerer Hingabe des Herzens wirken können, manchmal sogar zusammen mit Katholiken.“2 Aus diesem Grund beten auch die „Nicht-Katholiken mit brennendem Eifer für den neuen Papst,

betont Morgan und wünscht sich eine bessere Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken.2

Ein Papst für alle Christen, so lautete die Überschrift des Artikels. Und in diesem Geist des Strebens nach umfassender ökumenischer Einheit wurde der Artikel verfasst. Ob Morgan es wollte oder nicht, er brachte auf den Punkt, was die Gemüter unzähliger Christen in den letzten Jahren immer mehr beschäftigt: der Traum von der Einheit aller Christen, vereint in einer globalen Kirche. Dieser Traum kann jedoch aus Sicht der katholischen Kirche, die sich als „Mutter aller Kirchen“ und seit dem 2. Vatikanischen Konzil gar als „Mutter aller Religionen“ versteht, nur unter dem Führungsanspruch des Papstes verwirklicht werden.

Artikel in Christianity Today wie dieser von Timothy Morgan spiegeln den Geist wider, welcher viele Protestanten und Evangelikale erfasst hat. Es war übrigens Billy Graham, der im Jahre 1956 seine Bekanntheit sowie die nötigen Geldmittel seiner mittlerweile finanzstarken evangelistischen Organisation Billy Graham Evangelistic Association einbrachte, um die Zeitschrift Christianity Today zum Flaggschiff der Neoevangelikalen zu machen. Graham hatte in jener Zeit bereits eine bemerkenswerte innere Wandlung vollzogen. Als junger Prediger hatte er klare Kante gezeigt und Bekehrung und Errettung allein durch Christus verkündigt. In den 1960er Jahren erfand sich Billy Graham neu und mutierte zu einem diplomatischen Vertreter einer neuen Art von Evangelikalen, die man gemeinhin als die „Neuen Evangelikalen“ oder „Neoevangelikalen“ bezeichnet.

Billy Graham wusste sehr genau, was er tat und was er wollte, als er die Herausgabe von Christianity Today ermöglichte – und sein Name war die beste Werbung für dieses neue christliche Magazin. Grahams Vision, die er mit den Gründern des neoevangelikalen Fuller Theological Seminary teilte, war es „die evangelikale Flagge in der Mitte des Weges zu positionieren, um eine konservative Theologie mit einer jedoch liberalen Haltung bezüglich sozialer Probleme zu verbinden. Es [das Magazin Christianity Today] sollte das Beste des Liberalismus und das Beste des Fundamentalismus vereinen, ohne theologische Kompromisse einzugehen.“8 Graham wählte einen Mittelweg zwischen dem Fundamentalismus, der ihm als zu eng, gesetzlich und separatistisch galt, und dem Liberalismus, den er als zerstörerisch betrachtete, was die Autorität der Bibel und den biblischen Glauben anging. Graham wollte wie das Fuller Seminar einen neuen evangelikalen Glauben prägen, der modern sein sollte und akademische Respektabilität für sich beanspruchen konnte.

Graham war ein typischer fundamentalistischer Prediger seiner Zeit – Fundamentalismus stand in jenen Tagen für konservative Evangelikale und hatte nicht die negative Bedeutung des Wortes von heute – und betrachtete Katholiken zu Beginn seines evangelistischen Dienstes als Menschen, die es zum wahren Evangelium zu bekehren galt. Die Fundamentalisten betrachteten die katholische Kirche als die “Hure Babylons”, wie sie Johannes in seiner Offenbarung beschrieb, und viele betrachteten den Papst als Typus des Antichristen. Bis Ende der 1940er Jahre stand Graham auf Distanz zur katholischen Kirche und vermied jegliche Zusammenarbeit mit Katholiken. 1948 erklärte Graham, dass der Kommunismus, der Islam („mohammedanism“) und der römische Katholizismus die „ernsthaftetesten Bedrohungen“ („gravest menaces“) des rechtgläubigen Christentums seien.

1952 wurde erstmals deutlich, dass Graham seinen Kurs geändert hatte und sich wohlwollend über die katholische Kirche äußerte. Nach einer Evangelisation erklärte er:

Viele der Leute, die bei unseren Versammlungen eine Entscheidung für Christus getroffen haben, haben sich der katholischen Kirche angeschlossen, und wir haben von katholischen Publikationen Lob erhalten für das neu erwachte Interesse an ihrer Kirche aufgrund unserer Veranstaltungen“ (Pittsburgh Sun Telegraph, 6. September 1952). Dennoch waren die antikatholischen Äußerungen Grahams in jener Zeit noch nicht völlig verstummt. 1957 bezeichnete er das katholische Evangelium als einen „Gestank in der Nase Gottes („a stench in the nostrils of God“).9

Noch 1960 opponierte Graham gegen die Präsidentschaftskandidatur von John F. Kennedy, weil dieser Katholik war – bis dahin waren alle US-Präsidenten Protestanten gewesen – und setzte sich für die Wahl eines protestantischen Präsidenten ein. Dies zeigt, dass Graham noch immer Vorbehalte gegen die katholische Kirche hegte. Das sollte sich spätestens in den 1960er Jahren ändern. 1966 erklärte Graham:

Ich stehe den Katholiken näher als den radikalen Protestanten.10

Unter „radikalen“ Protestanten verstand Graham die konservativen Evangelikalen (Fundamentalisten), die seinen ökumenischen Kurs nicht guthießen. Und in einem Interview im Jahre 1978 machte Graham die erstaunliche Aussage:

Ich habe herausgefunden, dass meine Glaubensüberzeugungen im Wesentlichen die gleichen sind wie die von den Rechtgläubigen innerhalb der römisch-katholischen Kirche … Wir unterscheiden uns lediglich in einigen Fragen der späteren kirchlichen Tradition (McCalls Magazine, 1/1978).

In den 1970er Jahren nahm Graham zusammen mit Robert O. Ferm an einer Evangelisation auf dem Gelände der katholischen Notre Dame University teil. Was vor zwei Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre, war hier bereits Realität. Graham sagte anlässlich dieser Veranstaltung, die er zusammen mit der katholischen Kirche organisierte:

Ich empfinde, dass ich allen Kirchen angehöre. Ich fühle mich in einer anglikanischen Kirche oder baptistischen Kirche oder einer Brüdergemeinde oder einer römisch-katholischen Kirche gleichermaßen zuhause. Heute können wir uns auf 100 Prozent Unterstützung der katholischen Kirche in diesem Land stützen… Und die Bischöfe und Erzbischöfe und der Papst sind unsere Freunde.11

Die solide Biographie von William Martin über Billy Graham bringt unverhohlen ans Licht, dass Grahams Entschlossenheit, sich von sektiererischen christlichen Gruppierungen fern zu halten, im Laufe seines Lebens immer mehr schwand. Martin schreibt:

In zunehmendem Maße, und insbesondere nach einer engen Kooperation mit den liberalen Landeskirchen in England, Schottland und auf dem Kontinent, akzeptierte Graham zuerst die Zusammenarbeit mit allen offenkundig modernistisch-protestantischen Gruppierungen, um sie dann zu befürworten und schließlich sogar einzufordern; zu diesen Gruppierungen zählten die Unitarier ebenso wie die Mormonen und Zeugen Jehovas, deren Lehren sowohl von Evangelikalen wie Protestanten verworfen wurden.12

Die allmähliche Annäherung Grahams an die katholische Kirche erreichte ihren traurigen Höhepunkt in jüngster Zeit, in der Graham längst ökumenische Grenzüberschreitungen vollzogen hat. Das Nachrichtenmagazin idea stellte in einem Artikel im Jahre 2005 die Frage: „Ist der Evangelist Billy Graham ein Allversöhner?“ Der Sprecher Billy Grahams wiegelte ab und dementierte, dass dem so sei. Bereits im Jahre 1997 war Graham in die Schlagzeilen gekommen, als er in einem Gespräch mit dem Fernsehevangelisten Robert Schuller sagte:

Ich glaube, dass jeder, der Christus liebt oder ihn kennt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, zum Leib Christi gehört. Auch die, die den Namen Jesus nicht kennen, die aber in ihren Herzen wissen, dass sie etwas brauchen, was sie noch nicht haben, und die sich dann diesem Licht in sich zuwenden, auch die sind gerettet und werden mit uns in den Himmel kommen.13

In einem Interview mit Jon Meacham im Nachrichtenmagazin Newsweek aus dem Jahre 2006 lautet die Antwort Grahams auf die Frage, ob der Himmel für „gute Juden, Muslims, Buddhisten, Hindus oder weltliche Leute“ verschlossen bleibe:

Diese Entscheidung trifft allein Gott. Ich wäre töricht, wenn ich darüber spekulieren würde, wer dort sein wird und wer nicht. Ich glaube, dass Gottes Liebe umfassend ist. Er gab seinen Sohn für die ganze Welt, und ich glaube, dass er jeden Menschen liebt, unabhängig davon, was für ein Etikett er trägt.14

Wenn wir die Bibel als höchste Autorität anerkennen, müssen wir nicht darüber spekulieren, wer im Himmel sein wird oder nicht. Und im Grunde sollte sich niemand als Tor empfinden, der die Wahrheiten des Evangeliums glaubt und verkündet.

Iain H. Murray erinnert an Martin Luthers Worte, dass Nachgiebigkeit und Härte die beiden größten Schwächen sind, von denen alle Irrtümer geistlicher Führer herrühren. Grahams Anliegen, nicht zu hart sein zu wollen, ist bestimmt ein positives Merkmal seines Charakters. Doch indem er die eine Schwäche zu meiden suchte, wurde er Opfer der anderen. Murray schreibt über die Stärken und Schwächen eines Mannes, der angetreten war, die evangelikale Flagge aufzurichten:

Es war ein schwerwiegender Fehler zu glauben, dass seine vielen nicht-evangelikalen Freunde wahre Christen sein mussten. Graham lag richtig in seinem Anliegen, alle Menschen zu lieben, aber ausnahmslos jedem das Band der ökumenischen Liebe anzubieten, ist nicht unbedingt das gleiche. ‚Hütet euch vor den Menschen’ (Mt 10,17) ist ebenso eine Christenpflicht. Ein großzügiger Geist, eine von Grahams Stärken, erwies sich zugleich als seine Schwäche… Die Geschichte hat gezeigt, dass sein Unvermögen, Gefahren zu erkennen, sein Entschluss, nur noch versöhnend zu wirken und sein zunehmendes Engagement für die Ökumene seine ursprünglichen Überzeugungen aushöhlten.15

Grahams Leben und Dienst spiegelt anschaulich den derzeitigen Zustand fast des gesamten Evangelikalismus wider. Das zunehmende Engagement für die Ökumene unter Evangelikalen höhlt schleichend die evangelikalen Überzeugungen schrittweise aus, die lange Zeit als unverrückbares Erbe galten. Präses Michael Diener von der Deutschen Evangelischen Allianz spricht etwa von einem Perspektivwechsel und erhofft sich wichtige Reformen durch den neuen Papst,

auch im Miteinander von katholischen und evangelischen Christen in Deutschland.16

Ferner spricht Diener von einer

insgesamt wachsenden Wahrnehmung und Wertschätzung von Gemeinsamkeiten zwischen katholischer Kirche und Weltweiter Evangelischer Allianz …,

die vorangetrieben werden sollte und betont, dass in den gravierenden Lehrunterschieden eine

kontinuierliche Annäherung auf der Grundlage des Christuszeugnisses der Heiligen Schrift

möglich sei.17

Der US-amerikanische Charismatiker J. Lee Grady, Redakteur des Charisma Magazine, glaubt, dass ein „Tsunami des Heiligen Geistes“ die katholische Kirche auf den Kopf stellen wird. Vor mehr als zehn Jahren hatte er nach eigenen Angaben einen Traum, in welchem er im Vatikan stand und einen Tsunami auf sich zukommen sah. Diesen Tsunami deutet er als eine Welle des Heiligen Geistes, welche eine Reformation in der katholischen Kirche auslösen wird. Grady erläutert anlässlich des Amtsantritts von Papst Franziskus:

Ich glaube, dass die katholische Kirche eine große Erschütterung erleben wird, und dies wird sowohl positive wie negative Auswirkungen haben. Gott hat kein Gefallen an menschengemachten religiösen Strukturen (in jeder Denomination), welche die Leute daran hindern, Gott zu erkennen, und er meint es ernst, wenn er uns gebietet, die Götzen niederzureißen, die wir an seiner Stelle aufgerichtet haben. Gott richtet den Götzendienst am Ende immer…Für sie [die katholische Kirche] wird das Kommen der Welle von Gottes Kraft einen neuen Hunger nach dem Heiligen Geist und nach Gottes unverfälschtem Wort bewirken. Wenn Korruption ans Licht gebracht wird und Strukturen erschüttert werden, erwarte ich, dass Katholiken in der ganzen Welt eine reformatorische Bewegung des 21. Jahrhunderts erleben werden. Die Traditionalisten werden sie natürlich bekämpfen, aber tote Religion ist machtlos, wenn eine echte geistliche Erweckung geboren wird.18

Die Zukunft wird zeigen, ob dieser prophetische Traum vom Geist oder aus dem Fleisch war – bei der Treffsicherheit charismatischer Propheten darf man allerdings getrost davon ausgehen, dass der Tsunami des Heiligen Geistes ausbleiben wird. Aber immerhin spricht Grady im Zusammenhang mit der katholischen Kirche von „Götzendienst“; was er genau darunter versteht, erklärte er indessen nicht.

Die Webseite des bekannten US-amerikanischen Wohlstandsprediger Kenneth Copeland spricht im Zusammenhang mit der Wahl des neuen Papstes von einem „historischen Wandel.“19 Der Charismatiker Tony Palmer, ehemaliger Direktor der Kenneth Copeland Ministries in Südafrika, kam 2008 während einer Argentinienreise in Kontakt mit dem damaligen Kardinal Bergoglio, dem heutigen Papst Franziskus, und fragte ihn um Erlaubnis, Gottesdienste in den katholischen Kirchen seiner Diözese veranstalten zu dürfen. Palmer berichtet:

Prompt schüttete Kardinal Bergoglio sein Herz aus und brachte seine Wertschätzung für unsere Arbeit zum Ausdruck; er bejahte uns in vollem Umfang sowie das Werk des Heiligen Geistes in und durch uns – nicht nur für die katholischen Leute, sondern für alle christlichen Denominationen.20

Tony Palmer ist voll des Lobes für Papst Franziskus, den er als einen “Mann nach dem Herzen Gottes” und als „Wortführer des westlichen Christentums“ bezeichnet.21

Verschiedenheit ist göttlich, aber Spaltung ist diabolisch. Es ist an der Zeit, unsere Verschiedenheit im Band der Einheit hochzuhalten. Wir sind eine Braut, ein Leib in einer Taufe,

so Palmer.22 Ob Palmer den Reformator Martin Luther sowie die vielen anderen Reformatoren, die für die Wahrheiten des Evangeliums nicht selten ihr Leben ließen, wohl als diabolisch bezeichnen würde? Eine Anfrage an Kenneth Copeland Ministries diesbezüglich per Email am 23. März blieb bislang unbeantwortet.

Auch John Piper und Rick Warren (siehe unten) äußerten sich im Zusammenhang mit dem neuen Papst in einer Weise, die auf Wohlwollen oder, im Falle Warrens, auf äußerst positive Akzeptanz schließen lässt. Unter den vielen positiven, fast überschwänglichen Stimmen mahnt alleine der Präsident der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Präses Ansgar Hörsting (Witten) vom Bund Freier evangelischer Gemeinden,

vor zu hohen Erwartungen an den neuen Papst. Hinsichtlich grundlegender Veränderungen sollte man vorsichtig bleiben.23

A. W. Tozer schrieb einmal treffend:

Die Einheit unter Christen wird meiner Ansicht nach erst mit der Wiederkunft Christi hergestellt werden. Es gibt zu viele Faktoren, die bis dahin der Einheit entgegenwirken. Aber ein größeres Maß an Einheit könnte zustande kommen, wenn wir uns alle der Wahrheit mit einer tieferen Demut stellen würden.24

Vielleicht haben Evangelikale eine „Reformation der Demut“ nötig, um ein größeres Maß an Einheit zu schaffen und um ein kraftvolleres Zeugnis in der Welt zu sein. Die Kraft des Evangeliums wird sich indessen nicht ohne die Bindung an die Wahrheit einstellen.

Alleine Gott wird über allem Tun der Menschen ein gerechtes, der Wahrheit entsprechendes Urteil sprechen nach dem Evangelium durch Jesus Christus (Röm 2,2; 2,16). Um an die so oft gebrauchten Worte Billy Grahams anzuknüpfen: „Die Bibel sagt“ wird letztlich Gottes Maßstab sein. Solange es Christen auf dieser Erde gibt, werden sie sich dieser zentralen Frage stellen müssen: Was sagt die Bibel? Schon das Papstamt an sich wirft aus biblischer Sicht mehr Fragen auf, als das katholische Amtsverständnis beantworten kann. Wer “im Geist und in der Wahrheit” betet, kann im Grunde nicht für den Papst, sondern lediglich gegen die Aufrechterhaltung eines menschengemachten Amtes beten. Die katholische Heilslehre, das katholische Abendmahlsverständnis, die Heiligen- und Reliquienverehrung, die Marienverehrung sind nur eine Reihe der katholischen Dogmen, die mit dem Protestantismus und dem Evangelikalismus unvereinbar sind.

Der bibelgläubige evangelische Theologe Karl Heim schrieb im Jahre 1926 das Buch Das Wesen des evangelischen Christentums, ein Plädoyer für den evangelischen und gegen den katholischen Glauben. Die Gründe, warum der Katholizismus auch zu Zeiten Heims so große Anziehungskraft ausübte, erklärt der Theologe mit folgenden Worten:

Er [der Katholizismus] stillt den Hunger nach Objektivität, der in einem Zeitalter des Relativismus, wie wir es heute erleben, als tiefe Sehnsucht durch alle Menschen geht. Er befriedigt das Verlangen nach Unmittelbarkeit, nach Erlebnis, nach unio mystica … Er kommt dem Hunger nach Form, Stil und Liturgie entgegen. Und er entspricht dem Universalismus des heutigen Geschlechts, dem Drang sich ehrfurchtsvoll in den Seelenreichtum aller Zeiten einzufühlen und aus allen Blüten Honig zu saugen.

Nur wenn wir den Zauber des Katholizismus voll und ganz fühlen, können wir uns klarmachen, was es bedeutete, wenn Menschen wie Luther … sich mit tiefem Schmerz von ihr [der katholischen Kirche] losrissen. Wie stark müssen die Gründe gewesen sein, die diese Männer bewogen haben, eine so reiche Heimat zu verlassen.25

Karl Heim schrieb in seinem Buch über die zwei entgegengesetzten Wege, über das unterschiedliche Christusverständnis der beiden großen Kirchen, über die Ursachen einer legitimen Kirchenspaltung, über das evangelische Geistesleben und das Priestertum aller Gläubigen und zeigt die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen der römischen und der evangelischen Kirche auf. In der Frage der beiden großen Konfessionen gab es für Heim nur ein Entweder-oder, nicht jedoch ein Sowohl-als-auch. Heims Buch ist heute so aktuell wie vor fast 90 Jahren.

Beschwichtigende Einigungsversuche, indem man zwar leise darauf hinweist, dass es in einigen Punkten noch keine theologische Einigung gäbe, um desto lauter die vermeintliche Verbundenheit mit Katholiken herauszuposaunen und allen Katholiken die Hand zur Bruderschaft zu reichen, gleicht einem Pilzsammler, der alle Pilze für essbar erklärt. Der wahrhaft Erlöste folgt Gottes Wort und beugt sich unter die irrtumslose und unfehlbare Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift. Er macht Gottes Wort zum höchsten Maßstab von Lehre und Handeln und geht weder über das Wort hinaus, noch stellt er sich über das Wort. Erinnern wir uns ferner daran, dass selbst der Apostel Paulus nach Jerusalem zog, um den dortigen Aposteln sein Evangelium vorzulegen (Gal 2,2), woraufhin Jakobus und Petrus und Johannes, die als Säulen gelten, ihm die Hand der Gemeinschaft reichten (Gal 2,9). Der große Heidenapostel Paulus tat all dies, damit er nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre (Gal 2,2).

Die vielen Evangelikalen, die hinter dem Papst herlaufen – und hinter dem Papst herbeten – stehen in der Gefahr, am Ende vergeblich gelaufen zu sein. John Piper twitterte:

O Herr der Wahrheit und Barmherzigkeit, setze einen Papst ein, der am meisten willig ist, die katholische Kirche in Übereinstimmung mit deinem heiligen Wort zu reformieren.

Würde dieses Gebet sich erfüllen, käme es einer Totalkapitulation der katholischen Kirche gleich. Mir scheint dies ein naives und unrealistisches Gebet zu sein, so als ob jemand beten würde: „O Herr der Wahrheit und Barmherzigkeit, lass die Gerichte der Offenbarung des Johannes nicht über diese Welt kommen.“ Rick Warren, der „Pastor Amerikas“, twitterte vor der Papstwahl, dass alle Empfänger seiner Botschaft mit ihm gemeinsam beten und fasten sollten, dass die 115 Kardinäle den neuen Papst nach „Gottes Willen“ wählen. Was aber, wenn schon das Papstamt für sich genommen nicht der Wille Gottes ist? Die Bibel lehrt, dass Christus das Haupt seiner Kirche ist; die katholische Kirche hingegen schärft ihren Schäfchen ein, dass der Papst das Haupt der Kirche ist.

John Piper lehnt in einer Videobotschaft das Wohlstandsevangelium der Charismatiker, für das er nichts als Abscheu („hate“) empfindet, vehement ab und verwirft damit die vielen mittlerweile so populären Vertreter dieser Sonderlehre des Evangeliums in aller Öffentlichkeit (Joyce Meyer, Joel Osteen, Kenneth Copeland u. a.). Warum schlägt Piper so laute und klare Töne bei einer zugegebenermaßen verheerenden Verirrung unter Evangelikalen an, um gleichzeitig mit seinem Aufruf, für den Papst zu beten, den Eindruck zu erwecken, fast anbiedernd für eine Kirche zu werben, welche ebenso fern, wenn nicht noch ferner, von den Wahrheiten des Evangeliums steht wie die Verkündiger des Wohlstandsevangeliums, und welche die Protestanten jahrhundertelang verfolgte und Bibeln verbrennen ließ? Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen? Und schließlich sagte Piper einmal selbst:

Christen werden mit Irrtum heute besser umgehen, wenn sie über ähnliche Situationen, die gestern passiert sind, Bescheid wissen. Oder anders ausgedrückt, Geschichte ist wertvoll für das christliche Leben.26

Erwin Lutzer, der wie John Piper der neocalvinistischen Gospel Coalition angehört, kennt die Kirchengeschichte und zieht nicht nur die zutreffenden Schlussfolgerungen, sondern auch die folgerichtigen Konsequenzen aus der Geschichte. In seinem Buch „The Doctrines that Divide“ („Lehren, die trennen“) schreibt Lutzer über den katholischen Marienkult:

Wir müssen immer wieder zu der Frage der Autorität zurückkehren. Ist es die Schrift oder die Tradition? Die Lehre über Maria in der römisch-katholischen Kirche ist ein Mahnmal dafür, dass beides nicht wahr sein kann“27 – zur Erinnerung: Papst Franziskus hat am Morgen nach seiner Wahl (14. März 2013) als erstes die römische Basilika Santa Maria Maggiore für ein Gebet zu Maria aufgesucht. Über das Papstamt schreibt Lutzer, dass nur „Christus über die Autorität verfügt“, die der Papst für sich beansprucht (S.81). In Bezug auf Rechtfertigung und die katholische Sakramentenlehre, mahnt Lutzer seine Leser, dass das Problem der katholischen Dogmatik darin besteht, dass „das Heil nicht mehr in den Händen Gottes, sondern in den Händen von Menschen liegt (S.96).

Wir haben heute keine Apostel mehr, denen wir wie Paulus unsere Auffassungen über das Evangelium vorlegen können, damit diese sie prüfen können. Aber wir haben das Wort, das uns die Apostel hinterlassen haben! Und an diesem Wort, an diesem Wort allein (die Katholiken stellen die Überlieferungen der Kirchenväter und die Lehren ex cathedra aller Päpste auf die gleiche Stufe wie die Heilige Schrift), muss sich der Nachfolger Christi orientieren. Statt Dialog zu führen, der nur den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht und alles „Negative“ meidet, müssen Debatten geführt werden, die nicht nur das Positive sehen, sondern auch strittige Punkte nicht ausschließen. Selbstverständlich ist es geboten, all dies in rechter christlicher Gesinnung zu tun.

Und diese rechte biblische Gesinnung darf die Wahrheit nicht scheuen, wie John C. Whitcomb erklärt:

Glaube, Liebe und Hoffnung sind Tugenden, aber die WAHRHEIT ist eine ganz andere Kategorie. WAHRHEIT ist die Grundlage oder der Bezugsrahmen, ohne die keine der Tugenden wirklich existieren kann. Warum kann die Liebe nicht ohne die WAHRHEIT gedeihen? Ohne die WAHRHEIT, die die Liebe definiert, schützt, leitet und führt, wird die Liebe zu einem Desaster. Die Liebe ist die Dienerin der WAHRHEIT. Wir sollten es niemals zulassen, dass die WAHRHEIT beiseite gerückt wird. Gottes WAHRHEIT kann niemals verändert werden, aber Gottes WAHRHEIT in den Händen menschlicher Boten ist ein sehr kostbares und zerbrechliches Gut. Die WAHRHEIT wird entweder mit aller Kraft verkündigt und verteidigt, oder sie verflüchtigt sich innerhalb einer Generation.28


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