Der langjährige Vatikan-Korrespondent der US-Zeitschrift Der nationale Katholiken Reporter, John Allen, hat 2011 ein Buch vorgelegt mit dem Titel „Das neue Gesicht der Kirche. Die Zukunft des Katholizismus”. Darin zeichnet er ein Szenario auf, das so aussieht: Die katholische Kirche werde sich in den nächsten Jahrzehnten verändern. Allen meint: Die röm.-kath. Kirche werde evangelikaler werden und sich in den südlichen Ländern auch mit ihren bisherigen Erzfeinden, den Charismatikern und Pfingstlern, verbünden. Die liberalen Kräfte und modernen Reformbewegungen innerhalb der röm.-kath. Kirche – verortet hauptsächlich in Europa und den USA – hätten langfristig keine Chance, da sich die Zukunft der katholischen Kirche im Süden, z. B. in Afrika, entscheiden werde.
Diese geradezu prophetische Schau könnte jetzt unter dem neuen Papst Franziskus I. durchaus Realität werden. Denn der neue „Bischof von Rom” kommt aus Argentinien und hatte dort als Erzbischof Jorge Mario Bergoglio gute Kontakte zur pfingst-charismatischen Szene und zu den Evangelikalen. Der aus Argentinien stammende bekannte US-Evangelist Luis Palau bezeichnet Bergoglio sogar als persönlichen Freund. Nach Einschätzung von Palau werden sich Evangelikale und Katholiken in der Amtszeit des neuen Papstes weiter annähern – vor allem in Lateinamerika.
Dass der Radius über Lateinamerika hinausgehen möge, das wünschen sich vor allem die Vertreter der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA). Der Leiter der Theologischen Kommission der WEA, der deutsche Theologe Thomas Schirrmacher, der zur Einführung von Papst Franziskus I. und zu einer anschließenden Sonderaudienz eingeladen war, sagte:
Franziskus Bekenntnis zur ökumenischen Zusammenarbeit und zur Notwendigkeit fortgesetzter Gespräche über theologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurde deutlicher denn je formuliert und kam spürbar von Herzen.
Schirrmacher war auch darüber erfreut, dass bei seinem persönlichen Gespräch mit dem neuen Papst dieser die WEA kannte.
„Jetzt kommt eine komplett neue Zeit”, meint der Vatikan-Kenner und Springer-Journalist Andreas Englisch. Franziskus I. werde nicht wie Benedikt XVI. jemand sein, der in der Studierstube sitze und Bücher schreibe. Bergoglio sei mehr ein Vatertyp, ein Pastor, der die Menschen liebe und ihnen helfen wolle. Tatsächlich könnte mit dem neuen Papst eine neue Zeit anbrechen, besonders in Bezug auf eine große Ökumene der Konfessionen und Religionen. Franziskus I. personalisiert ein Bindeglied, das alle Religiösen unter ein Dach manövrieren könnte. Die Präses der Synode der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) und Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, drückte es so aus: Die Wahl von Bergoglio könne dazu führen, dass sich künftig Christen gemeinsam um ökologische und soziale Fragen kümmern werden:
Den Hunger in der Welt kann man nur mit allen Menschen guten Willens gemeinsam bekämpfen – damit auch über die Konfessionen und Religionen hinweg.
Tatsächlich legte Franziskus I. bei seiner ersten großen Predigt exakt auf diesen Themenkomplex seinen Schwerpunkt: „Bewahrung der Schöpfung” und „sich der Ärmsten, der Schwächsten und der Geringsten annehmen”.
Dies sind Signal-Begriffe, bei denen viele Evangelikale aufhorchen. Seit etwa 20 Jahren breitet sich unter den Evangelikalen eine neue Strömung aus. Wichtige Impulse zu dieser Strömung gaben die in Lateinamerika beheimateten „Radikalen Evangelikalen”. Diese neue Bewegung, die immer größere Teile der evangelikalen Welt erfasst, arbeitet an einem völlig neuen Missionsziel: Es geht nicht mehr in erster Linie darum, Menschen für Jesus Christus zu gewinnen, sondern eine neue, bessere Welt aufzubauen mit einer sanierten Natur, weniger Hunger und mehr Wohlstand für die Armen. Diese neue „Theologie” firmiert unter „Kingdom-Theology” oder Herrschafts-Theologie. Es werden Begriffe verwendet wie „Transformation”, „ganzheitlich”, „holistisch” oder „inkarnatorisch”. Doch bei Licht betrachtet geht es nur um eines: diese Welt zu einer besseren zu machen, so zu bearbeiten, dass sie wie ein Reich Gottes auf Erden wirkt.
Dass diese Idee nicht in den theologischen Elfenbein-Türmchen der Universitäten und Akademien bleibt, zeigt die Micha-Initiative und seit Neuestem die EXPOSED Initiative (exposed engl. = dt.: etwa „freigelegt”). Hinter beiden Initiativen steht u. a. die Weltweite Ev. Allianz. Bei der Micha-Initiative haben sich Evangelikale rund um den Globus zusammengefunden, um sich mehr sozial zu engagieren und eine UNO-Initiative zu unterstützen, die Armut und Hunger auf dieser Welt zurückdrängen will (s. TOPIC 5 u. 10/05). In der ziemlich neuen EXPOSED-Kampagne sollen evangelikale Christen die Bestechung auf dieser Welt aufdecken und sich so zu „Anwälten und Tätern der Gerechtigkeit” machen. Chef von beiden Initiativen ist Joel Edward (London), der ehemalige Leiter der britischen Ev. Allianz.
Auf dem Rolf-Scheffbuch-Symposion, das Anfang März in Gomaringen bei Tübingen stattfand, arbeiteten führende deutsche evangelikale Theologen, wie der Missionswissenschaftler Prof. Peter Beyerhaus, der Missionsdozent am Theologischen Seminar St. Chrischona, Hans-Ulrich Reifler, und Prof. Volker Gäckle, Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell, heraus, dass Evangelikale mehr und mehr Positionen des Weltkirchenrates übernehmen. Laut Beyerhaus habe der Generalsekretär des Weltkirchenrates, Olov Fykse Tveit, zu ihm gesagt:
Das, was die Evangelikalen 1973 am Weltkirchenrat besonders scharf verurteilt haben [den Kampf für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung], ist jetzt zu ihrem eigenen Missionsverständnis geworden.
Beyerhaus berichtete weiter von jüngeren Missionaren, die sich zunehmend darüber beklagten, dass ihre Hauptaufgabe darin bestehe, technische und wirtschaftliche Projekte zugunsten der armen Bevölkerung zu fördern. Dies nehme ihre Zeit und Kraft so in Anspruch, dass sie zur Evangelisation heidnischer Stämme kaum noch kämen. Nach Einschätzung der Theologen in Gomaringen werde die Seelenrettung immer öfter zugunsten eines sozialen Engagements zurückgestellt. Dadurch ergebe sich eine Verschiebung. Nicht mehr Gott, der sich in der Heiligen Schrift offenbare, stehe im Mittelpunkt, sondern der Mensch mit all seinen Problemen, Nöten und Wünschen.
Nun könnte gerade das gemeinsame Engagement für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – kurz gesagt: für eine bessere Welt – Evangelikale und Katholiken mit einem Tempo ökumenisch zusammenbringen, das bisher nicht vorstellbar war. Längst hat die katholische Kirche ein Modell ausgedacht, das sie Schritt für Schritt installiert, um andere Kirchen elegant unter das Dach Roms zu manövrieren. Es sind Ordinariate, selbstständige Teilkirchen mit eigenständigen Verwaltungsstrukturen und Oberhäuptern.
Diese Ordinariate können so ziemlich alles machen, was sie wollen, wenn sie das katholische Kirchenrecht und den Papst anerkennen. Gerade in letzter Zeit hat Rom neue Ordinariate zugelassen, um damit beispielsweise den Anglikanern, die sich in ihrer einstigen Heimatkirche nicht mehr wohlfühlten, eine eigene Teilkirche anzubieten. 2011 wurde eine weitere Teilkirche für die Anglikanisch-Lutherisch- Katholische Kirche (Anglo-Lutheran Catholic Church IALCC) eingerichtet. Derzeit scheinen Vatikan- Strategen dabei zu sein, eine Teilkirche für Lutheraner vorzubereiten, wie der Präfekt der Römischen Kongregation, Bischof Ludwig, im Januar 2013 durchblicken ließ.
Fakt ist: „Mutter Kirche” in Rom breitet schon seit Längerem die Arme weit aus, um alle Christen aufzunehmen, die mit ihr an einem Strang ziehen wollen. Gerade für dieses Vorhaben ist der neue freundliche und unkomplizierte Papst Franziskus I. die ideale personelle Besetzung. Doch nicht nur dafür.
Als Bergoglio noch Erzbischof in Argentinien war, pflegte er beste Beziehungen zu Juden und Muslimen. Mit dem Rektor des lateinamerikanischen Rabbiner-Seminars, Abraham Skorka, schrieb er sogar zusammen ein Buch und besuchte Skorkas Synagoge an hohen jüdischen Feiertagen. Die muslimische Gemeinschaft in Argentinien zeigte sich hoch erfreut, als sie hörte, dass Bergoglio zum Papst gewählt wurde. Bei einer Audienz für die Vertreter anderer Religionen und Kirchen in Rom grüßte Franziskus I. die Muslime, „die den einzigen barmherzigen Gott verehren.” Rabbiner Skorka ist sich sicher:
Papst Franziskus wird den Dialog der katholischen Kirche mit anderen Religionen vertiefen, weil er das hier in Argentinien bereits praktiziert hat.
Für nähere Informationen und Textbelege:
Topic 04/2013
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